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Dem Kaninchen entkommen

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„Dem Kaninchen entkommen.
Auszüge aus einem kieferorthopädischen Erlebnisbericht“

erschienen in
Die Welt

Dem Kaninchen entkommen…

Von Caroline Hahl – Seit ich denken kann, passte zwischen meine oberen Schneidezähne ein Fünfmarkstück. Eine Tatsache, die ich ohne Probleme auf sich beruhen ließ. Bis zu dem Tag, an dem mir ein Urlaubsfoto eine bittere Wahrheit vor Augen führte. Ich war 26: mein rechter Schneidezahn hatte sich entschieden, eigene Wege zu gehen. Genau genommen bewegt er sich unaufhaltsam nach rechts. Außerdem orientierten sich meine Zähne im Oberkiefer eindeutig von der natürlichen Vertikale in die weniger attraktive Horizentale. Insgesamt kein schöner Anblick, fand ich. Und die Vorstellung, mit 56 wie ein Kaninchen in die Welt zu blicken, erfüllte mich nicht mit Frohsinn.

Statt Trübsal zu blasen, vereinbarte ich kurzer Hand einen Termin beim Kieferorthopäden. Wollte ich wirklich eineinhalb Jahre mit einer festen Spange herumlaufen (ich war noch Single!)? War ich bereit, nach der Behandlung nachts eine Schiene zu tragen und wirklich viel Geld zu investieren? So stand ich erneut vor der Grundsatzfrage: Wie schlimm sind Kaninchenzähne wirklich? Es blieb dabei: sehr schlimm!

Entschlossen ließ ich sämtliche Voruntersuchungen über mich ergehen: Röntgenaufnahmen, Zahnabdrücke, Fotos. Alles gesund: Zähne, Wurzeln und Kiefergelenk. Gute Voraussetzungen also für eine kieferorthopädische Behandlung. Drei Wochen später war meine Spange fertig und nicht ohne Herzklopfen legte ich mich am Tag der Montage auf den Stuhl. Über vier meiner Backenzähne stülpte man Metallringe. Das knirschte gewaltig, tat aber nicht weh – wie bei einem Kieferorthopäden sowieso nichts weh tut. Auf den zuvor luftgetrockneten Zähnen in Ober- und Unterkiefer klebten bald kleine Brackets aus durchsichtigem Kunststoff. Ganz dünne Drähte wurden hineingeklemmt und schließlich an den vier Metallringen um die Backenzähne befestigt. Im letzten Schritt wurden Gummibänder, die aussahen wie winzige, aneinander gereihte Suppennudelringe, um die Brackets gespannt – oben und unten. Sie verbanden diejenigen Zähne miteinander, die als erste ihre Bewegungsrichtung ändern sollten. Nach einer Stunde war das Werk vollbracht. Doch was für den außen Stehenden unauffällig wirkt, fühlte sich für mich wie ein Baugerüst an. Ich bildete mir ein, jeder starre mich an – was natürlich nicht der Fall war. Nach einer Woche hatte ich mich an das „neue Lebensgefühl“ gewöhnt.

Auch in Sachen Attraktivität blieben die befürchteten Katastrophen aus. Ich verliebte mich sogar in dieser Zeit und die Sache mit der erotischen Anziehungskraft war so was von kein Problem, dass ich sogar schwanger wurde. Was für ein Glück: denn aufgrund des nun weicheren Gewebes bewegten sich die Zähne schneller. Dennoch wuchs meine Ungeduld von Kontrolltermin zu Kontrolltermin. Doch hält eine fest sitzende Spange naturgemäß den größten Ungeduldsattacken stand. Ob feste Spangen einem die Freude am Essen verleiden? Bei mir was das nie so. Natürlich: Spaghetti, Salat, Äpfel und Fleisch bereiteten mir nicht so viel Vergnügen, weil einfach viel in den Brackets hängen bleibt. An dieser Stelle vielleicht noch ein Tipp: Curry und Blaubeeren sowie andere färbenden Lebensmittel bitte immer nur einen Tag vor Gummiwechsel verzehren. Und dann, nach achtzehn langen Monaten, war ich sie endlich los – innerhalb von vier Minuten.

Ich wusste vor Glück kaum, wie ich lachen sollte, blieb vor jedem Spiegel stehen und fühlte mich so unendlich leicht. Bis heute, gut ein Jahr später, sind sie so schön geblieben. Die Bewegungen meiner Zähne habe ich im Griff, weil ich nachts eine Schiene trage. Eine Maßnahme, mit der eine Zähneknirscherin wie ich eigentlich schon früher wertvolle Zahnsubstanz hätte erhalten können. Und was die Zahnpflege angeht, bin ich in meiner Spangenzeit echt pingelig und wahrhaft zahnbewusst geworden. Zahnseide, Munddusche, morgens und abends gründlich und richtig putzen mit geeigneter Zahncreme. Denn, was nützen gerade Zähne, wenn sie nach der Spangenzeit mit Karies übersät sind.

Dem Kaninchen bin ich erfolgreich entkommen. Eine Behandlung, die ich jedem empfehlen kann, der sich mit seinen Zähnen unglücklich fühlt. Denn ein Termin beim Kieferorthopäden ist schnell gemacht. Zudem es heute Brackets gibt, die das Selbstbewusstsein weit weniger herausfordern. Man klebt sie nämlich hinter die Zähne.

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